„Ein ganz großer Theaterabend, an dem alles passt. Was sich in den knapp drei Theaterstunden abspielt, ist schlichtweg grandios. Dazu trägt zum einen der intelligente Text des Autors bei. Zum anderen aber hat die Regisseurin ganze Arbeit geleistet. Thoms hat mit offensichtlichem Fingerspitzengefühl alle Schauspieler zu Höchstleistungen motiviert."

2011, Inszenierung am Deutschen Theater Göttingen

Text: Tracy Letts, übersetzt von Anna Opel Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Anna Gerhards Bühne und Video: Florian Barth Kostüme: Katharina Meintke Musik: Fred Kerkmann Fotos: Isabel Winarsch

Mit: Gaby Dey, Nora Decker, Johanna Diekmeyer, Florian Eppinger, Angelika Fornell, Johannes Granzer, Paula Hans,  Fred Kerkmann, Nikolaus Kühn, Gerrit Neuhaus, Anja Schreiber, Marie-Isabel Walke, Paul Wenning, Gerd Zinck

„Gehts dir gut?
Ja, danke. Ich hab bloß Prärie.“
 

Da, wo die Prärie nicht nur eine Landschaft, sondern auch ein Bewusstseinszustand, ein seelisches Leiden ist, haben sich hinter verdunkelten Fenstern der alkoholabhängige Dichter Beverly Weston und seine tablettensüchtige Frau Violet ein Leben in abgeschotteter Zweisamkeit eingerichtet. Bis Beverly eines Tages ein Hausmädchen einstellt und verschwindet. Nach Jahren dürftigen Kontakts findet sich die Verwandtschaft ein und sieht sich plötzlich mit den Problemen und Eigenheiten der anderen Familienmitglieder konfrontiert. Als Beverly Weston tot aufgefunden wird, eskalieren die innerfamiliären Spannungen.

Mit schwarzem Humor erzählt das Stück von enttäuschten Hoffnungen und den Unmöglichkeiten menschlicher Kommunikation. Wie können wir miteinander Leben? Können wir denn miteinander leben?

Zwischen bitterem Ernst und brillanter Komik

14 Schauspieler hat Thoms auf der Bühne versammelt, zu den unglücklichsten muss Johannes Granzer zählen. Er spielt den Patriarchen Weston, der nach einem eindrucksvollen Einstiegsmonolog von der Bildfläche verschwindet. Schade für Granzer, der an dem folgenden Triumph nicht mehr teilhaben darf. Denn was sich in den knapp drei Theaterstunden abspielt, ist schlichtweg grandios. Dazu trägt zum einen der intelligente Text des Autors bei, dem es tatsächlich gelungen ist, allen handelnden Charakteren Raum zur Entfaltung und eine selbstverständliche Notwendigkeit zu geben. Zum anderen aber hat die Regisseurin ganze Arbeit geleistet. Thoms hat mit offensichtlichem Fingerspitzengefühl alle Schauspieler zu Höchstleistungen motiviert. Beeindruckend, wie sie die finstere Geschichte der Familie nach und nach preisgeben, wie sie aufarbeiten, sich verbünden, sich trennen und finden, wie sie streiten und versöhnen, das Heft in die Hand nehmen oder sich in ihr Schicksal ergeben. Hier hat alles Hand und Fuß – eine große Demonstration theatralischer Logik. Gaby Dey zeigt als tablettensüchtige Violet eine große emotionale Bandbreite zwischen Bösartigkeit, Schuld und Hilflosigkeit. Marie-Isabel Walke liefert ihr als Tochter Barbara einen brutalen Kampf um Liebe und Wahrheit. Und Paul Wenning streitet als Violets Schwager nicht nur gewaltig mit seiner Ehefrau Mattie, er hält auch eine Trauerrede, die das Zeug hat, als Szene mindestens dieser Spielzeit in die Geschichte einzugehen. Ein ganz großer Theaterabend, an dem alles passt.

Präzise, spannend, zum Lachen erschütternd

Beim Leichenschmaus am großen Tisch wird die trügerische Familien-Idylle zu Grabe getragen. Immer tiefer geht es hinein in die Vergangenheit. Die Familie, ein Ideal oder ein nicht mehr lebbares Modell? Regisseurin Antje Thoms deckt mit gnadenlosem Realismus die Strukturen des Irrenhauses Familie auf. Dabei lässt Thoms Pointen spielen, tappt aber keinesfalls in die Sitcom-Falle. Ihre Personenführung macht aus vielen im Erfolgsstück enthaltenen Klischees ans Herz gehende Psychogramme der Zerstörung. Präzise, spannend, zum Lachen erschütternd. Tosender Applaus des Publikums für das hinreißende Ensemble.

So nahe kann einem Theater gehen

Zwischen verbalen Gefechten und sentimentalen Rückblicken auf eine Vergangenheit, die kein Stück besser war als die Gegenwart ist, entwickelt das familiäre Bestiarium auch komische Seiten. Die Trauerfeier läuft völlig aus dem Ruder. Da hilft kein Tischgebet. Die Lage ist absolut bescheuert, fürchterlich lächerlich; sie mündet in einen grandiosen komödiantischen Konter, der so leicht nicht zu toppen sein dürfte. Und natürlich sagt es viel über die besondere Qualität dieser Inszenierung aus, das sie sich ihren Figuren mit derart viel Empathie klug und engagiert zu nähern weiß. Man möchte sie alle verstehen, so schrecklich sie mitunter auch sind, und fängt tatsächlich an, sie irgendwie zu mögen. So nahe kann einem Theater gehen.

Schwarzhumorige Dramedy

Gärend in der Hitze Oklahomas wuchern die Auseinandersetzungen der Akteure zum Gefallen der Zuschauer zu handgreiflichen und verbalen Attacken. Höhepunkt der schwarzhumorigen Dramedy ist Onkel Charlies Tischgebet zum Totenschmaus. Dem Team um Antje Thoms gelingt dabei eine für Göttinger Verhältnisse fast unglaubliche Leistung: Es unterhält und berührt ohne schlagbohrerartige Gesellschaftskritik. Gleichzeitig stellt es den Konflikt zwischen Familienzusammenhalt und individuellen Lebensentwürfen in der Moderne dar, ohne halbgare Lösungsansätze zu präsentieren. Florian Barths innovatives Bühnenbild steht mit seinen Collagen und Videosequenzen in bester Popart-Tradition und schafft damit eine Stimmung zwischen Zwielicht und Slapstick. Das Stück ist es wert, nicht nur vom angegrauten Göttinger Bildungsbürgertum mit Wohlwollen aufgenommen zu werden.