„Thoms gibt mit einer mutigen »Romeo und Julia«-Inszenierung ihr Regiedebüt und nähert sich dem Shakespeare-Stoff auf unerwartete, originelle Art. Tatsächlich dürfte sie damit das umstrittenste Werk der Spielzeit auf dieunterfränkische Bühne gebracht haben: als der letzte Vorhang fällt, springen die ersten Zuschauer zu stehenden Ovationen auf, während zeitgleich laute Buhrufe ertönen.“
2016, Inszenierung am Mainfranken Theater Würzburg
Text: William Shakespeare, übersetzt von Rainer Iwersen Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Wiebke Melle Bühne: Florian Barth Kostüme: Katharina Meintke Musik: Fred Kerkmann Fotos: Falk von Traubenberg
Mit: Maria Brendel, Alexander Hetterle, Sven Mattke, Michael Meichßner, Corinna Mühle, Theresa Palfi, Daniel Ratthei, Maik Rogge, Timo Ben Schöfer, Georg Zeies u.a.
„Ich leb wie tot, leb nur, wenn ich erzähl von meiner Not.”
Das Theater. Der Fundus. Die Gruft. Alte Aufbewahrungsstätte, wo sich seit Jahrhunderten die Knochen bis zur Decke stapeln: Romeo, Julia, Tybalt, Mercutio, Lorenzo, die Amme – alle tot. Der einzige Überlebende: Benvolio. Allein, einsam und neben der Spur, hilfloser Zeuge und Verkünder von Werden und Vergehen, von Leben und Sterben, von der ewigen Wiederkunft der Geschichte.
Wo sind die Feinde?
Wo sind die Angehörigen der Familien Montague und Capulet, deren erbitterte Fehde Verona – oder zumindest die Bühnen der Welt – seit Ewigkeiten in Atem hält? Benvolio ruft sie wach, die Figuren der wohl berühmtesten Liebesgeschichte der Weltliteratur, die längst zu einem Fundus aus Zitaten und Zuschreibungen geworden ist.
Inmitten dieses Bilderbogens der Theatergeschichte irren die Untoten umher.
Wieder und wieder werden sie zum Leben erweckt, wieder und wieder sind sie dem Tode geweiht. Denn der „Knoten der Ursachen“ löst sich nicht. Alles kehrt immer wieder. Die Liebe muss sterben, um im Tod ewig währen zu können. Szenen existentieller Grunderfahrung, von unmäßiger Euphorie ebenso geprägt, wie von tiefster Trauer, lassen die Abgründe menschlicher Erfahrung aufscheinen, die kein Maß, kein Ende und keinen Anfang kennt.
Was ist der Mensch?
Shakespeare stellt diese Frage nicht nur in den Jubeltönen der Liebe, sondern vor allem auch im Blick auf das Nichts. Er bereitet dem Schrecken eine Bühne, schafft ein Bewusstsein für den Abgrund jenseits aller Sprache, in dessen Dunkel wir uns begegnen.
Shakespeares Untote
Antje Thoms gibt mit einer mutigen »Romeo und Julia«-Inszenierung ihr Regiedebüt in Würzburg und nähert sich dem Shakespeare-Stoff auf unerwartete, originelle Art. Tatsächlich dürfte sie damit das umstrittenste Werk der Spielzeit auf die unterfränkische Bühne gebracht haben: als der letzte Vorhang fällt, springen die ersten Zuschauer zu stehenden Ovationen auf, während zeitgleich laute Buhrufe ertönen. Thoms Regie-Idee ist durchaus gelungen: „Gepriesen sei der Mann, der diese Steine schont, und verflucht sei der, der meine Knochen bewegt“, ist auf Shakespeares Grab zu lesen. Mit diesen Worten wollte der Dichter sich wohl seine letzte Ruhe bis in alle Ewigkeit sichern. Doch was ihm vergönnt sein soll, liegt wie ein Fluch auf den Figuren seiner Dramen: Als Untote geistern sie seit Jahrhunderten über die Bühnen der Welt, dürfen nicht zur Ruhe kommen. So oft wurde „Romeo und Julia“ schon gespielt, dass auch die Nebenfiguren des Dramas das Stück wie aus dem FF kennen. Diese rückt Antje Thoms deshalb in den Mittelpunkt: Zum einen Romeos Gefährten Benvolio, der als einziger Überlebender und personalisiertes Gedächtnis der Geschichte seit Ewigkeiten das Drama und die Unausweichlichkeit des Todes erdulden muss. Meichßner bewegt sich dabei ganz großartig zwischen entnervt sein, Wutausbrüchen und hinnehmender Verzweiflung. Zum anderen als Gegenpart den Fürsten, der sicht- und hörbar Spaß an der Geschichte hat. Weiter unternimmt der Zuschauer mit den Untoten einen Sprint durch 400 Jahre Shakespeare-Drama. Florian Barths Bühnenbild besteht aus vielen kleinen Bühnen auf der Drehbühne, die Figuren treten wie fremdgesteuerte Puppen heraus. Auch Katharina Meintke hat tief in die Kostümkiste gegriffen: Lady Montague steckt im strengen, elisabethanischen Kleid mit Halskrause, Lady Capulet trägt Haute Couture und Julia Jeansshorts. Stilistisch steckt in der Inszenierung von allem und aus allen Zeiten etwas. In komödienhaften Szenen trällert Vater Capulet mit Gitarre »Stand by your man«, die Amme – Alexander Hetterle in Frauenkleidern in Anlehnung an Shakespearezeiten, als sämtliche Rollen von Männern besetzt wurden – fordert einen Schnaps nach dem anderen und Paris kommt als alptraumartiger Spießerschwiegersohn mit Nickelbrille, verkrampft gehaltenem Blumenstrauß und Stock im Allerwertesten daher. Dann wieder arbeitet Meichßner als Benvolio die Tragik des Dramas heraus und Corinna Mühle als Fürst die shakespearesche Magie.
Unkonventionelle Interpretation
Das noch immer ergreifende Liebesdrama „Romeo und Julia“ erntet bei seiner Premiere einige schüchterne Buh-Rufe, die vom minutenlangen, teilweise stehend gespendeten Schlussapplaus übertönt werden. Antje Thoms macht es mit ihrer ersten Gastinszenierung am Main dem Besucher nicht einfach. Die Regisseurin verleiht dem Klassiker ungewohnte Farben, die einiges an Wohlwollen fordern. Auf den an unkonventioneller Interpretation klassischer Werke interessierten Zuschauer wartet ein überraschendes und turbulentes Theatererlebnis. Eine leidliche Kenntnis der historischen Story erscheint hilfreich bei den sich überlappenden und überschlagenden Ereignissen in den monströsen, mit blühender Fantasie ausgestatteten Bühnenbildern. Die Handlung beginnt in der Gruft, in der die im Leben verfeindeten Familien im Tod vereint sind. Benvolio erweckt die Gestalten und begleitet das Geschehen als wissender Kommentator, der weder mit fatalem, gespenstischem Lächeln noch mit brüllender Wut die Launen des blinden Schicksals beeinflussen kann. Michael Meichßner hinterlässt in dieser wechselhaften Haupt-Rolle einen blendenden Eindruck. Dass Julias Amme ein drahtiger Kerl mit Dreitagebart ist macht Laune, wenn Alexander Hetterle sich dieser Rolle bemächtigt. Redselig, aufgedreht, voll kantiger Fürsorge und gebeutelt von tiefem Leid – ein großer Auftritt, der im Lachduett mit Signor Capulet seinen humoristischen Höhepunkt findet. Timo Ben Schöfer markiert ein joviales Familienoberhaupt, dessen gewinnendes Lächeln sich in bitterbösen Vaterstolz und unsägliche Trauer wandelt. In der Titelrolle gibt Daniel Ratthei mit mitreißendem Engagement den so ungestüm wie bedingungslos zärtlich Liebenden, der sich gegen die grausame Fügung auflehnt und an ihrer Härte zerbricht. Theresa Palfi kann als kindlich-naive Julia ebenso beeindrucken wie als zärtliches Weib. Georg Zeies trifft mit Bravour den richtigen Ton als vertrauter Beichtvater und weitsichtiger Mahner. Als hormonstrotzender, vogelwilder Mercutio tobt Maik Rogge durch die Szenen. Er stichelt und findet pubertären Spaß an derben Späßen und handgreiflichen Kontakten. Die jugenddumme Rauflust, die ihn und Tybalt (Sven Mattke, der auch als geschniegelter Paris überzeugt) das Leben kosten, wird beim Tischtennis herausgeschmettert. Der Schläger mutiert in Romeos Hand zur todbringenden Waffe. Amüsiert und exaltiert tänzelt Corinna Mühle als Fürst einher, der die von Fred Kerkmann komponierten Lieder frisch interpretiert.
Ästhetisch und inhaltlich stark
Regisseurin Antje Thoms inszeniert eine Hommage an die unzähligen Tode, die Romeo und Julia in den vergangenen Jahrhunderten auf den Bühnen der Welt gestorben sind. Dazu greift sie tief in den reichhaltigen Theaterfundus des Stücks vom elisabethanischen England bis zum Comic-Zeitalter. Wie auf einem Rummelplatz-Karussell sind auf der Drehbühne mitsamt der im Tiefschlaf versunkenen und verfeindeten Familien Montague und Capulet auch alle Spielorte des Stücks versammelt. All dies irritierte nicht wenige Klassiker-Freunde und beglückte die Liebhaber unkonventioneller Inszenierungen. Den Unterschied zwischen Spiel und Leben aufzuheben versuchen Daniel Ratthei als grenzenlos Liebender bar jeden Selbstzweifels und Theresa Palfi als traumwandlerische bis hypernervöse Julia mit Jungmädchen-Attitüde. Mit offener und ehrlicher Hingabe retten sie die Emotionalität ihrer Figuren vor Kitsch einerseits und der Resignation im Reich der Untoten andererseits. Die Bilder zu den Leitmotiven Liebe, Tod und Vergänglichkeit sind ästhetisch und inhaltlich stark. Unter den Premierenbesuchern sorgte die ambitionierte Inszenierung für lebhafte Diskussionen.
Ironie und Komik bauen Fallhöhe auf
Langsam hebt sich der Vorhang zum Prolog und gibt den Blick frei auf eine Drehbühne mit Bühnenbildern aus verschiedensten Epochen. Drin erstarrt wie im Bilderrahmen die handelnden Personen. Gespielt wird das wahrscheinlich bekannteste Liebesdrama der Welt natürlich auch hier nicht zum ersten Mal und genau das macht Regisseurin Antje Thoms sichtbar. Die moderne Übersetzung ist nah dran am Original, so derb wie poetisch. Der unvermeidliche Schlagabtausch mit dem blutrünstigen Tybalt ist als rasantes Ping-Pong-Spiel inszeniert. Bälle werden so heftig wie Worte geschmettert. Am Mainfranken Theater darf Vater Capulet beim Hausball schon mal zur Gitarre greifen, die Amme ist ein Mann mit Dreitagebart in Frauenkleidern und nach ihrer heimlichen Hochzeitsnacht rauchen Romeo und Julia genüsslich die Zigarette danach. Ironie und Komik bauen Fallhöhe auf. Bis zum bitteren Freitod der Liebenden.
Eine Inszenierung der etwas anderen Art
Auch wenn das Ende der Geschichte bekannt ist, lohnt sich der Gang ins Theater, denn dort erwartet einen eine Inszenierung der etwas anderen Art.
Konventionsbrüche aus Alt und Neu
Ein „Master of the Dead“-Graffiti, der Duft von Kerzen und eine prachtvoll, viktorianisch gekleidete Dame – eine unheimliche Atmosphäre enthüllt der Vorhang auf der Bühne des Großen Hauses. Moderne Elemente vermischen sich mit zeitgenössischen und bilden Konventionsbrüche aus Alt und Neu. Von einer vulgären Intertextualität lebt die Sprache des Stückes. Antje Thoms spielt damit, umgangssprachlich wie originalgetreu. Bunt und grell werden wir mit der Bühne konfrontiert. Die Amme rast mit einem Fahrrad herum. Randale, Getöse, Liebelei und Anstößigkeit verbinden sich und bringen eine neue, undurchschaubare Ästhetik hervor.