„Diese deutsche Erstaufführung ist ein Muss für alle, die von einem Schauspiel Aufklärung über die „Dinge dieser Welt“ einfordern.“

2018, Deutschsprachige Erstaufführung am Theater Augsburg

Text: Hanoch Levin, übersetzt von Matthias Naumann Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Lutz Keßler Ausstattung: Lea Dietrich Malerei: Andrea Huyoff Musik: Alex Stolze (Nonostar) Fotos: Lea Dietrich

Mit: Sebastian Baumgart, Marlene Hoffmann, Natalie Hünig, Andrej Kaminsky, Patrick Rupar, Katharina Rehn, Daniel Schmidt und Zakaria Ünlü, Amelie Rettenbacher, Osée Bulisi, Gabriel Gebele, Anna Hahn, Andreas Hobmeier, Carl E. Ricé, Giuseppe Valentino, Stefanie von Mende

„Anhalten sollte jetzt die Zeit, am Höhepunkt des Glücks, denn besser wird es nicht mehr werden.“

 

Alles beginnt mit einem Stillleben, einem idyllischen, fast schon heiligen Bild: Vater und Mutter bei der Betrachtung ihres schlafenden Kindes. Doch plötzlich bricht völlig unvermittelt und mit äußerster Brutalität die Realität herein. Der Vater wird getötet, Mutter und Kind fliehen an Bord eines Schiffes, das sie zu einer sicheren Insel bringen soll, die sie aber nicht aufnehmen will.

Losgelöst von jedem konkreten Zeitbezug schildert Hanoch Levin das Thema Flucht als universelle Erfahrung, die jeden jederzeit und ohne Vorwarnung treffen kann.

Mit den Augen des Kindes blicken wir auf eine Welt des willkürlichen Umgangs mit Leben und Tod, in der Frieden, Mitgefühl und Menschlichkeit unerreichbare Ziele sind.

Existenzielles Tableau

Ein existenzielles Tableau von verstörender Klarheit und dabei in der Lage, eine universale Dimension jenseits historischer Einzelereignisse zu öffnen.

Sie können nirgends stranden

Boatpeople stellen das Personal in Hanoch Levins „Das Kind träumt“, Flüchtende, wie die EU sie heute zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken lässt. Das Theater Augsburg hat das Stück von 1993 aus dem Hebräischen übersetzen lassen, Antje Thoms die deutschsprachige Erstaufführung inszeniert. Willibald Spatz ist beeindruckt: Als jemand, der Hanoch Levin erst kennenlernt, muss man zugeben, dass das Stück eine geradezu frappante Aktualität besitzt. „Das Kind träumt“ spielt allerdings nicht in einer konkreten Zeit oder einem bestimmten Land, es erzählt seine Geschichte allegorisch, es gibt greifbare Figuren und bewegende Momente, die man hervorragend ausspielen kann. Die Inszenierung von Antje Thoms lässt ein gewisses Maß an Pathos zu, obwohl man zu Beginn auf eine ziemlich provisorische und werkstatthafte Bühne blickt. Die Rückwand der Bühne füllt ein Gemälde von Andrea Huyoff, ein Assoziationsteppich, in dem man während des Stücks immer mehr Motive wiedererkennt. Man befindet sich hier in einem Versuchslabor für menschliche Verhaltensweisen in Extremsituationen. Hier wird alles in Gedanken durchgespielt und ausprobiert. Die eigenartige „Zur Liebe geborene Frau“ herzt das Kind. Mit demselben debilen Lachen, mit dem sie eben noch „die militärische Grausamkeit“ bewundert hat. Als die Pistole in ihrer Hand dann aus Versehen losgeht und dem Vater ein Loch in den Kopf schießt, nachdem das Kind gerade noch ein Lied zu seiner Rettung gesungen hat, sagt sie nur: „Das passiert ja wirklich.“ Und der Abend bekommt zum ersten Mal eine berührende Intensität, die die Traumhaftigkeit der Spielanordnung durchbricht. Der nächste Gänsehautmoment gehört Sebastian Baumgart als „Auf die Lebenden Neidischer“, der dem Kind immer wieder sein Weiterleben vorwirft. Bitter auch die Szenen, in denen Andrej Kaminsky als Kapitän die Mutter fragt, warum ihr Kind leben sollte, wo doch seines gestorben sei, und er als Inselherrscher ein Gebet für die Fliehenden spricht, wenn er sie schon nicht retten will. Mehr Stücke von Hanoch Levin auf der Bühne wären gewiss kein Schaden, das hier ist auf jeden Fall eine Entdeckung, gerade weil es so zeitlos auf unsere Gegenwart passt.

Offener Deutungsraum

Antje Thoms inszeniert eine zeit- und ortlose Allegorie, die das Thema abstrahiert und doch konkret genug lässt, die eine menschliche Grunderfahrung formuliert. Der Zuschauer zieht natürlich Verbindungen zur Gegenwart, das Bühnengeschehen zwingt sie aber keineswegs auf, legt sie höchstens nahe, bleibt aber ein offener Deutungsraum. Natalie Hünig zeigt – im wahrsten Sinne des Wortes mit ganzem Körpereinsatz – alle Schattierungen von Hoffnung und Verzweiflung der Mutter, die Stück für Stück ihr „normales“ bürgerliches Leben und Denken hinter sich lässt, die kämpft, sich erniedrigt, sich verkauft, um einen Platz auf dem Schiff zu bekommen, die schließlich wünscht, ihren Mann nie kennengelernt, ihr Kind nie geboren zu haben. Das Schiff ist schon auf der Hinfahrt ein Totenschiff, voller schwankender, zombiehafter Gestalten, voller falscher Hoffnung und Neid auf die, die – vermeintlich – überleben werden. Denn an der Küste des Ziels haben der Herrscher und seine Frau nur leere Worte und Gebete für sie. Vielleicht wird hier die Inszenierung am deutlichsten zum Spiegel der Gegenwart, der ebenso wohlfeilen wie wahren und hilflosen Rhetorik des „Wir können nicht allen helfen“, die das ganze ausweglose Dilemma einer Verantwortungsethik offenbart. Es ist die Unausweichlichkeit, mit der Levin diesen Albtraum des Kindes auf das Ende, den Tod zulaufen lässt, die das Stück zu einer Tragödie macht. Jedem denkenden und fühlenden Menschen ist die Not derer, die zu Flucht oder Exil gezwungen werden, bewusst. Insofern erzählt „Das Kind träumt“ nichts, was wir nicht schon wissen oder empfinden – oder es zumindest könnten. Aber die Augsburger Inszenierung bewirkt das, was Theater und Literatur sollten: Das, was man eigentlich weiß, aber so gerne und bequem zur Seite schiebt, bewusst zu machen. Eindringlich, schonungslos, auch brutal und für manche womöglich schockierend, jenseits platter, reflexhafter gar moralisierender Aktualisierung. Das gelingt nicht zuletzt durch ein – erneut – glänzendes Ensemble mit einem bewundernswerten schauspielerischen Auftritt von Zeki Ünlü als Kind.

Stück der Zukunft

„Das Kind träumt“ als eine packende Tragödie von antikem Ausmaß – und wohl auch als das Stück der Zukunft. Mit ihm nimmt das Schauspiel Augsburg und seine Programmatik Fahrt auf. Diese Produktion besitzt Eindringlichkeit.

Diese deutsche Erstaufführung ist ein Muss für alle

Man muss sich allein schon deshalb „Das Kind träumt“ ansehen, um die eigene Sicht auf diese Welt zu ändern, die in Kinderaugen doch „ein guter und fröhlicher Ort ist.“ Wenn die Mitspieler das Kind in den Schlaf singen, bricht es einem das Herz wegen der Mutter (phantastisch: Nathalie Hünig), wegen dem Vater, der vor den Augen des Kindes erschossen wird, auch wegen der Inkarnation des Bösen (großartig: Andrej Kaminsky), vor allem aber wegen des unschuldigen Kindes. Und insbesondere wegen der sichtbar gemachten Wahrheit, dass „die Tragödien dieser Welt sich nicht in Büchern ereignen.“ Diese deutsche Erstaufführung ist ein Muss für alle, die von einem Schauspiel Aufklärung über die „Dinge dieser Welt“ einfordern.

Zwischenwelt

Vorgeführt wird, wie der Mensch zum Unmenschen und zugleich zum Mitfühlenden werden kann. Nichts wird ausgelassen. In der Schwebe bleibt, ob das Geschehen äußere Realität ist. Träumt das Kind seine Befürchtungen? Sieht es die Zukunft voraus? Die Inszenierung ist zeitlos und freilassend. Überall und jederzeit ist vieles möglich, nichts sicher. Die dichte Tragödie spielt in einer Art Zwischenwelt. Sie ist auch Satire. Bei den komisch-lustigen Szenen bleibt das Lachen im Halse stecken. Alle Darsteller*innen leben ihre Rollen überzeugend. Das Publikum applaudiert intensiv und lange.

Traum zwischen Horror und Groteske

Riesig und bunt ist das Gemälde von Andrea Huyoff, das die Bühne beherrscht. Und voller Widersprüche. Die schräg im Bild schwebende Tänzerin hält ein Maschinengewehr, der Totenschädel eines Tieres leuchtet ihr im Dunkeln neonfarben entgegen, dazwischen die biblisch anmutende Skizze von Mutter mit Kind. Vielleicht, denn noch ist das Bild in diesem Atelier, das zur Bühne wird, nicht fertig. Es wird weitergemalt, ausgemalt, aufgeführt. Angeleitet von dem Kind, das in Hanoch Levins Stück träumt, einen Traum zwischen Horror und Groteske. Allegorisch, manchmal grotesk, poetisch, manchmal auch zynisch, existentiell und hochaktuell. Im Vertrauen auf die Vorlage kreiert Regisseurin Antje Thoms eine Phantasiewelt, die sich Realität einverleibt hat. Ihre Flüchtlinge sind ebenso die heutigen Bootsflüchtlinge, wie ein stilisierter Chor skurriler Egozentriker. Katharina Rehn spielt die raunende Strippenzieherin zwischen Kunstliebhaberin und Märchenfee. Andrej Kaminsky gibt auch den wehleidig heuchlerischen Herrscher der Insel. Er und seine Untertanen sind in den zerfetzten weißen Plastikanzügen zugleich Forensiker der Gegenwart und abgewandelte Harlekine aus der Commedia del Arte, Narren ohne Herz. Thoms findet viele Bilder, spielt mit der Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum und sucht durch die Besetzung des Kindes mit einem tatsächlichen Kind auch den Bruch mit dieser artifiziellen Welt.

Aus der gemütlichen Komfortzone hinausgestiefelt

In alter Brecht-Manier überzeugt das Stück „Das Kind träumt“ und hinterlässt den Zuschauer aufgewühlt. Mit einem hohen Maß an Vulgarität und der Zurschaustellung von Tabulosigkeit wird der Zuschauer regelrecht aus seiner gemütlichen Komfortzone hinausgestiefelt und sieht sich, dank überzeugender schauspielerischer Leistung, mit Themen konfrontiert, die für viele Menschen weltweit Alltag sind: Vertreibung, Vergewaltigung, Tod und Trauer. Ergänzend ist noch mein rechter Schuh zu erwähnen, der spontan und interaktiv am Stück mitwirken konnte und jetzt mit Kunstblut verschmiert im Schuhregal ruht. Mit den Worten „Ein Schuh!“ wurde mir dieser entwendet und als Werkzeug missbraucht, um die Absurdität und die Machtdemonstration in einer Situation zu unterstreichen. Dieser Schuh zeigt also, dass die erste Reihe durchaus lohnenswert ist, also das gefühlte Erlebnis noch intensiver macht als die anonymen hinteren Reihen. Jeder, der sich auf dieses Wagnis einlässt, wird verstehen, was ich meine. Berührungsängste sollte man allerdings nicht haben! Die Ironie des Abends war, dass wir als „die Gesellschaft“ einen beträchtlichen Teil an Kritik in Levins Werk abbekommen und uns genau so verhalten, wie wir dargestellt wurden: Wir sind schockiert, beklommen und vergießen eine Träne. Doch der Abend klingt dann mit einer Flasche Wein und viel Gelächter aus.