„Alles ist nicht nichts, sondern ein bisweilen verstörendes Endzeitspiel, dass es in sich hat. Sehenswert.“

2013, Uraufführung von Trainingslager

Konzept und Idee: Antje Thoms und Jens Nielsen Text: Jens Nielsen Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Matthias Heid Bühne: Beni Küng Kostüme & Grafik: Florian Barth Licht: Michael Omlin Produktion: Gabi Bernetta * Fotos: Thomas M. Jauk / Stage-Picture Mit: Roland Bonjour, Dominique Müller, Ingo Ospelt, Hans Rudolf Twerenbold

Koproduktion mit Theater Winkelwiese Zürich, Kleintheater Luzern und Klibühni Chur Gefördert durch Präsidialdepartement der Stadt Zürich, Fachstelle Kultur Kanton Zürich, Pro Helvetia, Migros Kulturprozent, Stanley Thomas Johnson Stiftung

„Das Ganze ist Legende
Dass irgend je es etwas gab
Ist legendär“
 

Nichts funktioniert mehr. Kein Strom. Kein Wasser. Keine Zivilisation. Nur vier Männer hocken aufeinander, in einer öden Wüste die einmal eine schöne Gegend war, bekannt für Steuerprivilegien und Sonntagsausflüge. Ohne Habe, ohne Perspektiven, auf sich selbst zurückgeworfen und verwahrlost.

Aus den letzten Resten unserer untergegangenen Welt, aus Zivilisationsmüll, ruinierten Gegenständen, Bücherfetzen und Erinnerungen, konstruieren sie sich einen notdürftigen Lebensraum mit eigenen Gesetzen.

Und eigenen Geschichten. Denn wie das Leben früher war, weiss niemand mehr genau. Die Männer greifen nach allem, was ihnen in die Hände fällt. Schon bald mündet ihr wahllos ausbrechender Enthusiasmus in einen Fatalismus, der keine zivilen Umgangsformen mehr kennt. Das Menschsein schwindet. Die Sprache zerfällt. Ihr Dasein wird so undurchsichtig, wie die ab und an in der Ferne gesichteten Staubwolken.

SICHT AUF NICHTS ODER DIE LEGENDE VOM REST ist der dritte Teil des «Quartett Heimat», in welchem sich die Gruppe TRAININGSLAGER auf unterschiedliche Weise mit dem Heimatbegriff auseinandersetzt.

Die aktuelle Produktion orientiert sich am Genre des «Western», geht aber auch spielerisch, absurd und komisch den Fragen des Lebens nach: Was ist der Sinn? Wohin führt das alles? Warum geht die Sonne auf und unter? Können Utopien aus dem Verlust heraus geboren werden? Lassen sich die Bruchstücke unserer Kultur neu zusammensetzen?

Abgesang auf die Zivilisation

Der ganze Weltuntergang, oder wenigstens der halbe, wird scheints zuerst das allerschönste Fest sein, mit Trachten, Marroni und Magenbrot, womöglich sind wir schon mittendrin. Dann werden die Plagen kommen, Giftwolken und Geschwüre, irgendwann wird es Frösche regnen, und ein Bundesrat wird die Idee haben, sie zu trocknen und einzulagern als Not- und Grundnahrungsmittel. Den Bundesrat wird es aber bald auch nicht mehr geben, und bleiben werden vielleicht nur: der Kalberer, der Niggli, der Säuli und der Löli. Also ganz so wie im Stück „Sicht auf Nichts oder Die Legende vom Rest“. Die vier hocken da jetzt in einer Gegenwart ohne Zeit auf grauen Kieseln, nur Niggli besitzt noch ein eigenes Loch im Rest eines grauen Bunkers; und miteinander und gegeneinander, am Ende der Zukunft, erinnern sie sich, dass einmal etwas war wie Zivilisation und Titlisbahn oder Augenfaltencreme und Ökonomie. Die Erinnerungen und die Worte bröseln aber schon. Jeder hat seine eigenen legendären Krümel. Der Niggli zum Beispiel spielt noch ein bisschen Markt und Vision. Der Löli spielt Jesus und Versammlungsfreiheit. Vor allem jedoch schlägt jeder sich selbst und den anderen die Träume aus dem Kopf, manchmal buchstäblich. Das ganze Stück ist ein Abgesang: Rhetorik des Degenierens, die selbst schon – sprachlich sehr kunstvoll – zerfällt. Wenn es darin noch Zukunft gibt, dann die einer umgedrehten Evolution, in der der Affe vom Menschen abstammt. Da dies aber ein seltsam frauenloses Stück ist, besteht auch da nicht viel Hoffnung. Mindestens führte eine Frau Regie. Textbewusst und rhythmussicher hat Antje Thoms das inszeniert. Und ihr Männerhaufen ist ihr gefolgt: beweglich auf engem Raum, im quasi schimmligen Licht der Verwesung. Und von der Depression in die brutale Lächerlichkeit und wieder zurück. Denn das gehört in dieser Endzeit untrennbar zusammen.

Äußerst eigenwilliger Theaterabend

Bei diesem scheußlichen Geräusch läuft es einem kalt den Rücken hinunter. Das dunkelgraue Geröll, das sich auf der Bühne häuft, sieht aus wie Lavagestein, ist jedoch Schaumglasschotter, der beim Draufstehen ganz fürchterlich knirscht. In dieser absolut trostlosen Umgebung müssen sich vier Männer, die einzigen Überlebenden der Menschheit, behaupten. Im Gegensatz zu klassischen Western-Helden haben sie das Leben in der Wildnis jedoch nicht aus freien Stücken gewählt. Und so geben sie sich denn auch nicht als Helden, sondern als Verzweifelte, die mit dem Verlust von allem Bekannten, Heimatlichen nur schwer zurechtkommen. Von den vier allesamt hervorragend gespielten Typen ist Kalberer am übelsten dran, hat er doch keine Arme mehr, wodurch selbst das Aufsetzen des Cowboyhuts zur mühevollen Qual wird. Kalberers raues Lachen, das nach ein paar Sekunden jeweils zur Grimasse gefriert, löst ein ähnliches Gefühl aus wie das Knirschen des Gerölls. Niggli hat es verhältnismäßig gut. Er hat sich ein Erdloch gesichert und ist auch Chef des überlebenswichtigen Trockenfrosch-Vorrats. Löli ist ein zartes Pflänzchen und Säuli spricht nur wenig, entlockt aber seinem Waterphone spröde, ja fast schon gespenstische Klänge. Es ist ein rohes Leben, das die vier Männer in der Wildnis führen. Aus geringstem Anlass springen sie einander wie Tiere an die Gurgel. Oft sind sie nicht fähig, richtige Wörter, geschweige denn Sätze zu äußern. Doch als würden sie sich ihres animalischen Zustands auf einmal bewusst, raufen sie sich immer wieder zusammen und erfinden gemeinsam Spiele mit klaren Regeln, zum Beispiel: Besuch beim Großvater. Dabei ist es den Männern unglaublich wichtig, dass Niggli in der Rolle des Großvaters ihnen (fiktiven) Heidelbeer-Holunder-Sirup mit einem Strohhalm serviert. Das Getränk aus der untergegangenen (Kindheits-) Welt steht in diesem Moment für alles Vertraute, ja für Heimat schlechthin. Der von Sprache und Thematik her äußerst eigenwillige Theaterabend, der das Publikum ganz schön herausfordert, lebt auch von seinem absurden Humor.

Wie Kinder im Sandkasten

Keine Colts, keine Feinde und kein Weibsbild weit und breit, das allfällige Heldentaten bewundern könnte – die Lage der vier Cowboys in Jens Nielsens „Sicht auf Nichts oder Die Legende vom Rest“ ist ernst. So ernst, dass sie ins Spielen, Schwelgen und Sehnen verfallen, um nicht vollends durchzudrehen. Die Sonne geht auf. Die Sonne geht unter. Rund um einen alles überragenden Monolith gleicht ein Tag dem anderen. Kein Ausweg in Sicht, keine Abwechslung und auch keine Veränderung. Also müssen die vier Cowboys ihre Spiele selber erfinden, ganz so wie Kinder im Sandkasten. Roland Bonjour alias Löli übt sich in halsbrecherischer Akrobatik, Hans Rudolf Twerenbold alias Niggli spielt sich gern als gottgleicher Herrscher auf, nur weil er auf dem Vorrat an Trockenfröschen hockt wie die Glucke auf dem Nest. Dominique Müller alias Säuli wendet sich dieser Realität ab und streichelt verklärt eine Art Instrument mit dem letzten verbliebenen Geigenbogen oder lärmt mit vollem Körpereinsatz sonstwie. Ingo Ospelt alias Kalberer will sich weder ablenken noch fügen, sondern im eigentlichen und übertragenen Sinn mit dem Kopf durch die Wand – besonders eindrücklich anzusehen, weil ihm die Arme fehlen. Die Assoziationen, die Regisseurin Antje Thoms, Bühnenbildner Beni Küng und Kostümbildner Florian Barth auf die Bühne wuchten, reichen von Stanley Kubrick über Samuel Beckett bis zum vielsagenden, umgangssprachlichen Häufchen Elend. Diese Endspiel-Version ist einzig verschroben, komisch und höchstens am Rand ein wenig melancholisch hoffnungslos. Getreu dem Motto: Wir haben keine Chance, also nutzen wir sie… erfinden die vier Cowboys täglich zahllose neue Spielarten und vergessen darüber alles um sie herum – und das davon angeregte Publikum derweil, wie die Zeit verstreicht.

Verzweifelte Sehnsucht

Die Schauspieler bedienen die Vorlage virtuos und stülpen ihre Sehnsucht verzweifelt nach außen.

Verstörendes Endzeitspiel

Alles ist nicht nichts, sondern ein bisweilen verstörendes Endzeitspiel, das es in sich hat. Sehenswert.

Verspäteter Spätwestern

Hinreissend gespielt von Roland Bonjour, Dominique Müller, Ingo Ospelt und Hans Rudolf Twerenbold – abgewrackte Cowboys aus einem arg verspäteten Spätwestern, ohne Aussicht auf gar nichts, bloß mit einigen zerbröselnden Reminiszenzen an eine Welt, die nicht mehr ist. In den Dialogen entfaltet sich eine verzweifelt schräge, zwischen Absurdität und geheimer Sinnhaftigkeit pendelnde Komik.

Knochentrockner Western

In „Sicht auf Nichts oder Die Legende vom Rest“ wird ein beklemmendes, irdisches Endzeitszenario gespielt. Tragisches wie Groteskes kommen dabei in Westernkluft daher. Der eine stampft in hilflosem Wahn auf den Knochen herum, der andere robbt unsinnig tobend durch die Gebeine von vergessenen Vorfahren, während der dritte rastlos an den letzten Zeugen menschlicher Siedlungsbauten herumturnt. Der Rest unserer Spezies, die letzten vier Männer, sind alle völlig verroht und vegetieren mit der vagen Erinnerung an ein besseres Leben in einer Einöde vor sich hin. Es herrscht Endzeitstimmung. Fast alles Leben in unseren einst so prosperierenden Breiten ist zugrunde gegangen. „Der Mensch hat ausgedient. Es gibt nichts der Rede wert“, lässt uns einer der Verwilderten wissen, wobei allein schon die Rede selbst allen schwer fällt. Denn Worte sind, wie fast alle kulturellen Errungenschaften, immer weiter aus dem Bewusstsein der vier einsamen Cowboys entschwunden. Krampfhaft versuchen die Übriggebliebenen anhand von Erinnerungsfetzen einen kulturellen Zusammenhalt zu bewahren. Doch schon das materielle Überleben fällt derart schwer ohne Wasserzufuhr, „Trockenfröschen“ als einzige Nahrungsquelle und einer Sonne, die sich kaum entscheiden kann über diesem armseligen Rest Erde auf- oder unterzugehen. Belebende Lichtblicke, bekannte Bilder von Früher, kann sich die Zweckgemeinschaft nur kurzzeitig vorstellen. Einer Fata Morgana gleich gelingt es aber nicht, sie festzuhalten. Ein Neuanfang will sich nicht kreieren. Die Fußspitzen aus der ersten Zuschauerreihe berühren fast das poröse, knöcherne „Gestein“, welches bei den wiederkehrenden, emotionalen Anfällen der Protagonisten polternd umherfliegt. Wobei man sich auch aus der hintersten Reihe dem intensiven Spiel der Akteure kaum entziehen könnte. Das Stück ist aber nicht einfach ein düsterer Abgesang, in dieser „Legende vom Rest“ spielen sich einige komische Szenerien auf dem Weg zum drohenden Untergang ab. Dass der Humor meist in bärbeißigem Ton daherkommt, muss die Lacher schließlich nicht zwangsläufig im Hals stecken lassen. Und immer wieder stellen sich zukunftsgerichtete Sinnfragen zu unserem Dasein, wenn auch öfters absurd verbildlicht.