„Antje Thoms vertraut auf den assoziativen Reichtum der Bilder,die der spanische Dramatiker in seinem berührenden poetischen Libretto verdichtet hat.Sie gibt ihnen keinen Rahmen und keine bedeutungsschweren Bildunterschriften, damit sie sich offen entfalten und überlagern können. Auch darin fasziniert diese Inszenierung: als mutiger Theatertraum über die belebende Kraft der Imagination.“

2016, Inszenierung am Deutschen Theater Göttingen

Text: Paco Bezerra, übersetzt von Franziska Muche Regie: Antje Thoms Dramaturgie: Matthias Heid Ausstattung: Beni Küng Musik: Michael Frei Video: Mathis Albrecht Fotos: Isabel Winarsch

Mit: Emre Aksizoglu, Florian Eppinger, Elisabeth Hoppe, Benjamin Kempf, Anton von Lucke

„Manche sticht die Sonne und ihr Kopf wird ein Ballsaal.“

 

Die endlosen Treibhauswüsten Andalusiens sind der Schauplatz von UNTER DER ERDE, hier steht das Gewächshaus eines Vaters und seiner drei Söhne, das ein schreckliches Geheimnis birgt. Hier werden im Verborgenen Tomaten gezüchtet, die eines Tages so wertvoll wie Gold sein sollen. Versteckt unter den Plastikplanen, ohne je direkt mit Sonne, Wind und Regen in Berührung zu kommen, mit viel Chemie zur Reife gebracht und von illegalen Arbeitern gepflückt, sollen die Supertomaten zum Höchstpreis auf dem Markt landen. Doch bevor er an einer ominösen Krankheit stirbt, will der Vater das Familienerbe seinen drei Söhnen zuteilen: dem Ältesten, der von einem unheilbarer Juckreiz gepeinigt wird. Dem Mittleren, Jünger der landwirtschaftlichen Lehren seines Erzeugers. Und dem Jüngsten, der in eine Phantasiewelt flieht, Geschichten erfindet, in denen er die Realität immer wieder neu deutet. Mit allen Mitteln versucht seine Familie, ihn in der Normalität ihres Alltags zu halten, denn jede seiner Geschichten enthält auch ein Körnchen Wahrheit und könnte das Geheimnis verraten, dass die endlosen Plastikbahnen der Gewächshäuser verbergen.

In finsteren Albtraumbildern erschafft Bezerra eine archaische Welt, in der um jeden Zentimeter gekämpft wird, in der jeder jedem misstraut, es Erde und Kröten regnet. Realität und Fiktion vermischen sich im Zwischenreich von Wachen und Traum.

Der Schein trügt und auch die Wirklichkeit

Mit den Plastikplanen, den Schüren und Gestängen und dem maroden Kühlschrank erinnert das Bühnenbild an eine Mülllandschaft. Wären da nicht die störrischen Hinterlassenschaften aus einer anderen Zeit, die Schale mit dem Spielzeug, ein geblümtes Tuch, ein Gartenstuhl, in dem sich nun schaukeln lässt. Es ist immer früher, später oder jetzt in Paco Bezzeras Schauspiel „Unter der Erde“; mit all den Ereignissen um einen Vater und seine drei Söhne und den Requisiten, die wie Mementos an ihnen zu haften scheinen. Sie rumoren besonders in dem jüngsten Sohn, der sich weigert, nur das zu glauben was er sieht und sich in die Familiengeheimnisse und Verdächtigungen hineingräbt. Vielleicht hat er die Ereignisse auch nur geträumt und sie dann in seiner Fantasie verändert, so dass sie in der Inszenierung von Antje Thoms wie ein Bilderrausch anmuten. Es gibt sehr real fassbare Motive, die Bezarra mit der Wahrnehmung seines Chronisten und mit dem Existenzkampf eines ländlichen Familienbetriebes verwoben hat. Aber Stück und Inszenierung haben keine politische Abrechnung im Sinn. Die Fakten sind schließlich unter den Plastikplanen gegenwärtig und treiben umso mehr die Fantasie des Erzählers an. Antje Thoms vertraut mit ihrem Schauspielteam auf den assoziativen Reichtum der Bilder, die der spanische Dramatiker in seinem berührenden poetischen Libretto verdichtet hat. Sie gibt ihnen keinen Rahmen und keine bedeutungsschweren Bildunterschriften, damit sie sich offen entfalten und überlagern können. Auch darin fasziniert diese Inszenierung als mutiger Theatertraum über die belebende Kraft der Imagination.

Wahrheitssuche unter der Erde

Betritt man die Blackbox über die Studiobühne, vergisst man sogleich, dass man in einem Theater ist –  es riecht nach Erde, man hört leise Windgeräusche, dreckig ist es, zwischen einer Unzahl an Planen und kaputten Gestängen arbeiten zwei Männer… und oben im Zuschauerraum sitzt ein Mann mit einer weißen Blume. Um das Publikum in seinen Bann zu ziehen, muss das Schauspiel nicht einmal beginnen, denn die Inszenierung kennt scheinbar keinen Anfang und kein Ende. In diese Welt nimmt Indalecio auch den Zuschauer mit, wenn er von seinem Platz oben auf der Zuschauertribüne hinunter in den Bühnenraum zu einer Beerdigung steigt und gewissermaßen einen Einblick in sein Erleben und auch seine Erinnerungen gibt: »Wenn man auf das eigene Leben zurückblickt, erscheint es immer als ein Traum oder eine Geschichte.« Bereits diese ersten Worte weisen auf die kaum zu entschlüsselnden Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Zeit- und Handlungsebenen hin. Die Regie zieht alle ihr zur Verfügung stehenden Register und setzt dem Ungewöhnlichen und Überraschenden keine Grenzen, geboten wird dem Publikum ein synästhetisches Spektakel. Wessen Wahrnehmung stimmt? Was ist Wahrheit, was ist Lüge? Man wird stutzig, fragt sich, ob das, was man auf der Bühne gesehen hat, tatsächlich Teil der Wirklichkeit oder nur ein gelebter Traum ist. Das ständige Verschwimmen der Ebenen, der Geschichten, die nur im Kopf Indalecios spielen, ist unter der Regie von Antje Thoms, die diese metaphysische Offenheit aufzufangen weiß und auf die Bühne bringen kann, meisterlich gelungen. Hinterlegt ist es mit einem hervorragenden Bühnensoundtrack, der jeder Szene eine eigene Atmosphäre gibt und schon fast filmischen Charakter aufweist. Und auch die schauspielerische Leistung ist überragend. Unbestritten: Die Inszenierung des Deutschen Theaters übertrifft jegliche Erwartungen an diese europäische Erstaufführung. Ein wahrer Genuss, so beeindruckend – und zugleich so nachdenklich – dass erst einige Sekunden Stille herrscht, bevor tosender Applaus im Zuschauerraum ausbricht.

Gemüse für Europa

Wer durch Südspanien fährt, der kann sie nicht übersehen: Flächen, Hänge, Täler überzogen mit Kunststoff-Planen. Unter ihnen wächst das Gemüse für Europa. Unter ihnen gibt es eine eigene Welt, mit originären Problemen: Familienfehden, Existenznöte, Diskrepanzen zwischen Einheimischen und Gastarbeitern aus Marokko. Im Deutschen Theater feierte am Sonntag ein Stück Europa-Premiere, das sich damit und mit einer Familie beschäftigt: So klar wie sie klingt, ist die gespielte Geschichte aber nicht. Da verschwimmen Gedanken und Realität – vor allem in der Hauptfigur. Deutlich spürbar für den Zuschauer sind die Wunden, die der Massen-Gemüseanbau in Spanien hinterlässt, eine zerstörte Umwelt, kranke Menschen. Die Spirale dreht sich weiter. Fazit: Ein beeindruckend von Antje Thoms in Szene gesetztes Stück. Mit einer optisch reizvollen Bühne, passendem Licht und trefflicher Musik – die auch vor düsteren, harten Stücken nicht zurückschreckt. Viel Beifall am Ende.

Wie ein Thriller

„Unter der Erde“ ist wie ein Thriller. Man wird mitgenommen in die Geschichte einer intriganten Familie – niemandem ist zu trauen. Das Bühnenbild ist sehr gelungen. Atmosphärisch wirkt es, als sitze man selbst in einem Gewächshaus oder auf den Planen. Durch das Licht wird einem warm, durch wehende Planen erlebt man einen Sturm und durch die Tropfen steht man im Regen. In dieser düsteren Konstellation kommt Indalecio einem Geheimnis auf die Spur: Er erkennt, dass sein Vater und sein Bruder nicht nur Gemüse in den Gewächshäusern anbauen. Ein packendes Stück, das nicht mit dem Applaus endet, sondern zu Hause erst richtig beginnt.

Postapokalyptische Szenerie

„Unter der Erde“ heißt das ungeschriebene Werk des Farmersohns. Er will ein Geheimnis aufdecken, dass sein Vater mit aller Kraft zu verheimlichen versucht. Das Bühnenbild ist beeindruckend. Ein Schaukelgerüst, an dem ein Gartenstuhl befestigt ist, ein alter Kühlschrank aus dem Schläuche ragen und ein Tisch mit einem riesigen Vergrößerungsglas. Umgeben ist dieses sonderbare Mobiliar von Plastikbahnen, die sich im Raum auftürmen. Locker angelehnt an Shakespeares „König Lear“ ist die Personenkonstellation. Ein Vater hat drei Söhne: der Älteste ist gezeichnet von einer grässlichen Krankheit, eine klaffende Wunde verläuft direkt über seiner Kehle. Der Mittlere ist der Verbündete des Vaters, getrieben vom selben Wunsch, eine neue Tomatensorte zu züchten. Der Jüngste ist ein Träumer und Möchtegern-Schriftsteller. Elisabeth Hoppe verkörpert gleich mehrere Rollen. In einer Szene ist sie die Heilerin, die Indalecio, dem Wunsch seiner Familie entsprechend, per Exorzismus zu einem normalen Menschen machen soll. Hoppe und von Lucke überbieten sich in dieser grandios gespielten Szene gegenseitig. Die Handlung ist schwer zu durchschauen, in dieser Inszenierung, die Fiktion und Realität derart vermischt, dass sich der Zuschauer nur schwer orientieren kann. Die düstere Stimmung, das unwirkliche Bühnenbild, die abgerissenen Gestalten, suggerieren eine postapokalyptische Szenerie. Es werden viele Fragen aufgeworfen und nur wenige beantwortet. Der Vater und der Mittlere züchten die ersehnte Tomate. Doch zu welchem Preis? Unter Verwendung von Pestiziden oder doch auf dem Nährboden verscharrter Leichen? Die Geschichte bleibt offen.